ESSAY-BRIEF

Essay-Brief Dezember 2015

Briefe

Bücher

Team

Kontakt

Home

Aktuell

Der Radikale Yoga -  Teil I.

© Bernd Helge Fritsch

 

Immer wieder höre ich von Menschen die sich seit Jahren am spirituellen Weg befinden, dass es ihnen nicht möglich sei wirklich den Durchbruch zu schaffen. Sie haben viel gelesen, meditiert, Vorträge und Seminare besucht, doch sie sind mehr oder weniger enttäuscht und frustriert, dass sie noch immer nicht die ersehnte „Befreiung“ erlangt haben. Sie bedauern, dass sie immer wieder in alte Muster verfallen, dass sie insbesondere bei äußeren Turbulenzen nicht in sich ruhen können. Dabei würden sie sich so sehr nach anhaltendem inneren Frieden und nach der damit verbundenen Glückseligkeit sehnen.

Im Gespräch mit diesen Menschen zeigt sich, dass sie sich ein großes Wissen über spirituelle Gesetze und Wege angeeignet haben. Doch Theorie und Praxis klaffen bei ihnen auseinander. Was nützt alles Wissen, wenn man es nicht umsetzen kann?

So schreibt mir eine Leserin der Essaybriefe: „Wie funktioniert Loslassen in der Praxis? Theoretisch ist mir alles immer klar. Aber ich habe bisher noch nie einen Ratschlag bekommen, wie ich das wirklich im Leben, in schwierigen Situationen praktisch anwenden kann.“

Spirituelles Wissen

Weisheit bedeutet gelebtes Wissen. Doch warum fällt es vielen Menschen so schwer ihr Wissen im Alltag zu leben?

Es gibt dazu ein Sprichwort:

„Wer verstanden hat, es aber nicht umsetzen kann,

der hat nicht verstanden!“

 

Die Basis um wirklich zu verstehen ist die Erkenntnis des Sinns unseres Erdendaseins. Haben wir diesen Sinn ergriffen, so vergeuden wir nicht mehr die wenige Zeit, die uns für unser Erdenleben zur Verfügung steht.

Kurz zusammengefasst kann dieser Sinn so erklärt werden:

Das Bewusstsein des Menschen hat sich im Laufe der Evolution von der Einheit mit dem Sein (Paradies, Reich Gottes) abgespalten. Diese Trennung ging Hand in Hand mit der Entwicklung der Denkfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstreflexion vor sich. „Adam und Eva“ lernten zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Auf diese Weise wurde jeder Mensch zu einem einmaligen Individuum, zu einem eigenständigen Zentrum von Bewusstsein. Der Preis den die Menschen dafür bezahlen mussten ist ihr mehr oder minder verirrtes Ego-Dasein (Ego-Bewusstsein) mit all seinen Schwierigkeiten und Leiden.

Nunmehr ist die Menschheit (jeder Mensch) aufgerufen wie der „verlorene Sohn“ mit seinem neu gewonnenen „Ich“-Bewusstsein in die Einheit mit „dem Vater“ zurück zu kehren (siehe Lukas 15, 11 ff.). Dazu müssen wir unser Ego-Bewusstsein transformieren.

Wer bin ich? Wer ist der Vater?

Um in das „Vaterhaus“ zurück zu kehren ist die Erkenntnis, wer „Ich“ bin und wer unser „Vater“ ist, erforderlich. „Ich und der Vater sind eins!“ Lesen wir in den Evangelien. Ich und der Vater sind „reines Bewusstsein“! Solange ich mich und den Vater als voneinander getrennte Personen vorstelle, herrscht Trennung in meinem Bewusstsein. Solange regiert das Ego-Bewusstsein in mir.

Die Verwandlung des „Egos“ kann nur dann statt finden, wenn wir konsequent und mit voller Hingabe die notwendigen Schritte zum „Eins-Werden“, mit dem Universellen Bewusstsein (gerne „Gott“ genannt) vollziehen.

Der Radikale Yoga

Ich empfehle daher nicht lauwarm sondern „radikal“ den Weg der Erkenntnis, der Hingabe und der Selbstbeobachtung (im alten Indien Jnana-Yoga, Bhakti-Yoga und Raja-Yoga genannt) zu gehen.

Mit dem Wort „Radikal“ ist hier nicht gemeint „gewaltsam“ oder „mit der Brechstange“ vorzugehen. Sondern es geht um eine intensive, hingebungsvolle, und beharrliche Umsetzung von spirituellem Wissen. Diese Umsetzung lässt sich nicht „nebenbei“ mit gelegentlichen Übungen erreichen. Sie erfordert eine tiefgreifende Veränderung des Bewusstseins. Oberflächliches Bemühen führt nur zu einem inneren Konflikt zwischen unserm Wollen und unserm tatsächlichem Tun!

Paradoxer Weise bedarf die Verwirklichung einerseits einer radikalen Konsequenz und Beharrlichkeit. Zum anderen verhindert alles Ego-Wollen die Erreichung des ersehnten Ziels. Nur mit Leichtigkeit, Freude, Heiterkeit, mit Loslassen, Vertrauen und Wu Wei (Geschehen-Lassen) geschieht das Unerklärliche, mit dem Verstand nicht Fassbare, das Mysterium der Transformation.

Was in deinem Leben hat höchste Priorität?

Die Bereitschaft zur „Radikal–Umsetzung“ bedarf der Einsicht in die höchste Priorität und ein Verständnis für das unermessliche Geschenk der inneren Verwandlung. Nur diese Umsetzung wird dich tief und anhaltend glücklich machen und von allen Sorgen befreien. Alle anderen Schritte ergeben sich sodann mühelos, harmonisch, wie von selbst.

Für die meisten Menschen sind all ihre weltlichen Aufgaben und Beschäftigungen viel wichtiger als ihr innerer Weg. Wenn sie nur die Bedeutung der Worte Jesu begreifen würden:

Suchet zuerst das Reich Gottes und alles andere wird

dir hinzu gegeben.                                       Math. 6,33

 

Viele versuchen jedoch das Pferd von hinten aufzuzäumen. Sie meinen zuerst die äußeren Aufgaben erfüllen und sich um ihre Problem kümmern zu müssen. Erst wenn alle „wichtigen“ Aufgaben erledigt und alle Probleme gelöst seien, hätten sie „irgendwann“ Zeit sich um ihre Seele zu kümmern. Sie übersehen dabei, dass sich in ihren äußeren Lebensbedingungen, mit denen sie so sehr beschäftigt sind, ihr inneres, unerwachtes Seelenleben wiederspiegelt. Denn in jedem Augenblick bestimmen wir durch den von uns gewählten Bewusstseins-Zustand wie sich in den nächsten Stunden, Tagen, Monaten und Jahren unser Schicksal entfalten wird.

Alle deine Probleme und Aufgaben lösen sich spielerisch und es wird dir alles „hinzu gegeben“, was du für ein sorgenfreies Leben benötigst, wenn du zuerst - und zwar „radikal“ - die erforderlichen Schritte zur Erlangung des „Reich Gottes“ gehst. Dieses „Reich“ ist nicht weit entfernt und es muss nicht mühsam erkämpft werden. Sondern es ist in dir. Es ist dir näher als du dir selbst bist!

Das Reich Gottes ist inwendig in euch.                    (Lukas 17,21)

Gott ist allezeit bereit, aber wir sind sehr unbereit.

Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne.            Meister Eckehart

Die „zehn Gebote“ für radikale Umsetzung

Im Folgenden werden die wichtigsten Schritte, für die „radikale“ Umsetzung spirituellen Wissens in „zehn Geboten“ (besser gesagt: Empfehlungen) zusammen gefasst. Sie entsprechen sowohl der Essenz der altindischen Yoga-Wege als auch dem tieferen Sinn der Lehre Jesu.

Die Einteilung in zehn Punkte soll dem Verstand eine Hilfestellung bieten, um sich diese Weisheiten leichter zu verinnerlichen. Doch letztlich wirst du erkennen dass es bei allen zehn Punkte nur um Bewusstheit geht. Denn Verwirklichung benötigt kein Tun, keine Anstrengung sondern es ist nur ein achtsames „Sein“ erforderlich.

1. Radikale Achtsamkeit & Gedankenkontrolle

WIE es in dir innen aussieht, ist wichtiger als das WAS du tust!

Achte stets auf deinen Bewusstseins-Zustand! Ein liebevoller, ruhiger und zufriedener Seelenzustand hat absolute Priorität. Er ist viel wichtiger als das Ergebnis deiner Handlungen. Ob du deine äußeren Ziele erreichst oder nicht, liegt in Gottes Hand. Gib dein Bestes und überlasse alles andere dem Universellen Bewusstsein.

Betreibe „Nicht-Denken“. „Nicht-Denken“ bedeutet liebevoll wahrzunehmen was ist, ohne zu bewerten, ohne Begehren oder Ablehnung. So befreit sich dein Denken von den Verwirrungen des Ego-Bewusstseins.

Verweile stets in einer achtsamen, heitern und zugleich meditativen Stimmung. Wenn du Entscheidungen zu treffen hast, so lass sie aus der Stille deines Herzens kommen! Nur Gedanken die aus der Stille kommen können neu, intuitiv und kreativ sein. Alles Geschehen in der Welt ist ständig im Fluss. Lass deshalb los von deinen bisherigen Denk-Gewohnheiten, die sich auf die Vergangenheit beziehen.

Beobachte stets dein Innenleben. Lass nicht zu, dass dein Bewusstsein von äußeren Dingen und Ereignissen aufgesaugt und beherrscht wird! Beobachte deine Gedanken, Gefühle und Willensimpulse! Das befreit dich vom Ego-Bewusstsein. Das befreit dich von deinen Wünschen, Erwartungen, Sorgen, Ängsten, Enttäuschungen, von Eitelkeiten, Verletzungen und Selbst-Bedauern. Deine Gedanken kreisen nicht mehr unkontrolliert um die eingebildeten Bedürfnisse deines „kleinen Ichs“. Durch stete Gedanken-Kontrolle beendest du dein Sklaven-Dasein, bewirkt durch anerzogene Denk- Gefühls- und Willens-Muster.

Die Liebe beginnt da, wo das Denken aufhört!

Wir brauchen aber die Liebe von Gott nicht zu erbitten,

sondern wir müssen uns für sie nur bereit halten.

Meister Eckehart

2. Radikale Präsenz

Typisch für das Ego-Bewusstsein ist seine gedankliche Beschäftigung mit dem was war und dem was sein wird. Je mehr Emotionen mit solchen Gedanken verbunden sind, desto unfreier ist der Mensch. Vorwiegend vergangene Ereignisse, die als verletzend, ärgerlich oder bedrohlich von uns bewertet wurden, verfolgen uns. Ebenso beherrschen uns Ego-Wünsche, Sorgen und Ängste, welche sich auf eine illusorische Zukunft beziehen. Da bleibt kein Platz übrig für das „Jetzt“, für das gegenwärtige Sein. Doch nur im Jetzt kann sich das wahre Leben, können sich Liebe, Weisheit und Glückseligkeit entfalten.

Radikale Präsenz bedeutet die Ereignisse, die Menschen und dich selbst neutral, mit innerem Abstand wahrzunehmen. Sie bedeutet so rasch wie möglich zu vergessen was war; niemandem böse sein; sich nicht über Vergangenes ärgern. Es bedeutet sich keine Sorgen um die Zukunft machen. Es bedeutet Hingabe an den Zauber des gegenwärtigen Seins.

So endet die psychologische Zeit, das größte Hindernis auf dem Weg zu Gott, zu deinem Innersten.

Gott ist ein Gott der Gegenwart.

Kein Ding ist Gott so entgegengesetzt wie die Zeit.

Der gegenwärtige Augenblick ist das Fenster,

durch das Gott in das Haus meines Lebens schaut.

Meister Eckehart

3. Radikales Loslassen von jeder Identifikation

Unser Ego, dieses Phantom-Wesen setzt sich zusammen aus einem Bündel von Gedanken, Erinnerungen, Eitelkeiten, Wünschen und Problemen. Es entsteht durch die Identifikation der Seele mit Dingen, Menschen und Geschehnissen.

Dieses Bedürfnis nach Identifikation können wir schon bei den kleinen Kindern beobachten. Schon früh identifiziert sich das Kind mit seiner Mama oder mit dem, was es haben will. Es ist daher eifersüchtig auf seine Geschwister und schreit, wenn ihm sein Spielzeug weggenommen wird oder wenn es Gewünschtes nicht bekommt. In weiterer Folge wird das Ego-Bewusstsein durch Erziehung und Gesellschaft gefördert und zur vollen Blüte gebracht.

In der Regel identifizieren wir uns mit unserem Namen, unserem Körper, unserer Herkunft, unserer Vergangenheit, unseren Besitztümern, unserem Erfolg und unserem Versagen, unseren Gedanken und Emotionen. Doch all diese vergänglichen Erscheinungen „sind“ wir nicht. Unser Seelengrund, unser unvergänglicher Wesenskern existiert unabhängig davon.

Jeder Mensch hat ein höheres Ich. Er ist ein mit Schöpferkraft ausgestattetes Zentrum von Bewusstheit. Er ist nicht dies und nicht das. Er ist grenzenloses Bewusstsein. Er ist ein einmaliges Individuum und zugleich in seinen Seelenkern eins mit allem Sein.

Kannst du dich von deinem Ego befreien, bist du entsprechend stille und achtsam so kannst du jederzeit dein „Ich bin“, dein eigenes Bewusstsein, wahrnehmen. Du bist dieses „Ich bin“ jenseits aller Identifikationen.

„Das Ich wirft die Illusion des Ich (Egos) ab und bleibt doch als Ich übrig.

Das ist das paradoxe der Selbstverwirklichung

Ramana Maharshi

 

Die weiteren sieben Punkte des radikalen Weges werden im nächsten Essay-Brief behandelt. Es handelt sich dabei um:

4. Zufriedenheit

5. Akzeptanz

6. Authentisch leben

7. Bereitschaft zur Veränderung

8. Radikales Vertrauen

9. Bedingungslose Liebe

10. Beziehung von Gott zu Gott

 

Herzliche Grüße

Bernd